Rechtsanwalt Medizinrecht Leipzig

Die ärztliche Schweigepflicht post mortem vs. Einsichtsrecht der Angehörigen in die Patientenunterlagen

  1. Umfassende ärztliche Schweigepflicht

Die Pflicht des Arztes über die Behandlung seiner Patienten und deren Details Stillschweigen zu bewahren besteht seit jeher (BGH, Urt. v. 31.05.1983 – VI ZR 259/81). Der Musterberufsordnung (MBO) ist ein Gelöbnis, angelehnt an den hergebrachten Eid des Hipokrates, vorangestellt: „Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.“ In § 9 MBO ist die Schweigepflicht des Arztes detailliert geregelt. Diese ärztliche Schweigepflicht wird ebenso wie die Schweigepflicht post mortem auch strafrechtlich abgesichert. Nach § 203 Strafgesetzbuch macht sich ein Arzt strafbar, wenn er die Schweigepflicht unbefugt bricht.

2. Ärztliche Schweigepflicht post mortem

Dass die (strafrechtlich sanktionierte) Schweigepflicht auch über den Tod des Patienten hinaus wirkt ist allgemein anerkannt und in ständiger Rechtsprechung von den Gerichten bestätigt (zuletzt z.B.. OLG Naumburg, Beschl. v. 09.12.2004 – 4 W 43/04; OLG München Urt. v. 09.10.2008 – 1 U 2500/08; OLG München Beschl. v. 19.09.2011 – 1 W 1320/11).

Praxishinweis:

Stillschweigen ist nicht nur über die Details der Behandlung, d.h. Diagnose, Therapie etc., zu bewahren. Bereits der Umstand, dass und ob sich ein Patient in der Behandlung des Arztes befindet/befunden hat, unterliegt der Schweigepflicht. Andernfalls würde der Arzt bereits durch Berufung auf seine Schweigepflicht erkennen lassen, dass ein Behandlungsverhältnis besteht oder bestand hat (BGHSt 33, 148, 152; BGH, Urt. v. 22.12.1999; Az: 3 StR 401/99)

3. Offenbarung gegenüber Dritten

Jedoch gilt diese Schweigepflicht und damit das Aussageverweigerungsrecht des Arztes nicht unbegrenzt. Die Schweigepflicht dient ausschließlich dem Interesse des Patienten. Mit dem Tod des Patienten erlischt auch die Verfügungsbefugnis über Geheimnisse aus dem persönlichen Lebensbereich, so dass eine Entbindung von der Schweigepflicht nicht mehr in Betracht kommt (so auch OLG Naumburg a.a.O.). Die Schweigepflicht ist als höchstpersönliches Recht des Patienten nicht vererbbar. Die Erben können den Arzt daher nicht wirksam von der Schweigepflicht entbinden (BGH, Urt. v. 31.05.1983 – VI ZR 259/81). Mit dem Tod des Patienten wird der Arzt als ein zur Verschwiegenheit verpflichteter Treuhänder betrachtet (BGH, a.a.O.; OLG Naumburg a.a.O. m.w.N.).

4. Der mutmaßlicher Wille des Patienten ist entscheidend

Damit ist eine Offenbarung gegenüber Dritten nach dem Tod des Patienten – parallel zur Rechtslage beim lebenden Patienten – grundsätzlich ausgeschlossen. Wie auch beim lebenden Patienten darf und muss der Arzt aber Dritte informieren, wenn dies dem Wunsch und Willen des Patienten entspricht. Während der lebende Patient dies dem Arzt regelmäßig mitteilen kann, ist der Arzt beim verstorbenen Patienten ggfls. auf dessen mutmaßlichen Willen zurückgeworfen – ähnlich der Situation bei Patienten, die nicht mehr zu einer Willensäußerung in der Lage sind und ihren Willen nicht vorab geäußert oder z.B. durch eine Patientenverfügung manifestiert haben.

Sofern und soweit keine eindeutige Willensäußerung des Patienten bekannt ist, muss der Arzt daher persönlich und ohne Hinzuziehung einer weiteren nicht an der Behandlung beteiligten Person entscheiden, ob die Preisgabe des Geheimnisses (hier die Herausgabe der Patientenunterlagen) dem Willen des Verstorbenen entspricht.

Praxishinweis:

Da in einer Krankenhausabteilung ein Patient regelhaft von mehreren Ärzten behandelt und betreut wird, können sich diese zur Erforschung des Patientenwillens selbstverständlich untereinander austauschen. Nicht beteiligt werden dürfen hingegen Ärzte, die an der Behandlung nicht beteiligt waren, da die Schweigepflicht auch unter Berufsträgern gilt.

Für diese Entscheidung gibt es keine Regelvorgaben, sie ist jeweils im Einzelfall individuell zu treffen. Entscheidend für die Erforschung des mutmaßlichen Willens ist das wohlverstandene Interesse des Patienten an der weiteren Geheimhaltung der dem Arzt anvertrauten Tatsachen. Es liegt mithin in der Verantwortung des Arztes, von dem ihm bekannten Umständen auf den mutmaßlichen Willen des Patienten zu schließen und nach einer gewissenhaften Prüfung zu entscheiden (OLG Naumburg a.a.O.) Ihm verbleibt bei dieser Prüfung ein gewisser Entscheidungsspielraum, der durch die Gerichte nur eingeschränkt überprüfbar ist (OLG Naumburg a.a.O.). Bei der Erforschung des mutmaßlichen Willens kommt dem Anliegen der um Auskunft bittenden Person eine entscheidende Rolle zu (OLG München a.a.O.). Die Verweigerung der Auskunft darf dabei nur auf Gründen beruhen, die von dem erkennbar gewordenen oder vermuteten Willen des Patienten gedeckt sind. Andere Gründe, insbesondere solche aus Interessen des Arztes oder Dritter ergeben, sind unzulässig. Nach der alten Rechtslage bestand eine Offenbarungspflicht nach Ansicht des OLG München auch gegenüber der Krankenversicherung des Patienten. Denn der Patient habe ein Interesse daran, dass nicht die Solidargemeinschaft für Schäden aufkomme, die schuldhaft verursacht worden seien.

Somit gilt: Allein das Fehlen einer expliziten Einwilligung des Patienten in die Information seine Angehörigen post mortem, ist nicht geeignet eine Auskunftsverweigerung zu begründen. Nach Ansicht der Rechtsprechung hat ein Patient, der zu Lebzeiten eine ungünstige Prognose vor seinen Angehörigen geheim halten wollte, um seine geringe Lebenserwartung nicht bekannt zu geben, ein solches Geheimhaltungsinteresse in der Regel nicht mehr post mortem (BGH a.a.O.). Steht die Testierfähigkeit (Geschäftsfähigkeit) des Patienten in Frage, geht der BGH (Beschl. v. 04.07.1984 – IVa ZB 18/83) davon aus, dass es regelmäßig im Interesse des Patienten ist, dass etwaige Zweifel durch Offenbarung der Patientenunterlagen ausgeräumt werden können. Die Verdeckung eines Behandlungsfehlers wäre nur dann auch vom Willen des Patienten gedeckt, wenn es eindeutige Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Patient, in Kenntnis des Fehlers, seinen Arzt schützen wollte. (so wohl auch OLG Naumburg, a.a.O.). In der Regel ist davon auszugehen, dass die Offenbarung dem mutmaßlichen Willen entspricht, wenn dadurch die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen Behandlungsfehlern des letzt- oder eines vorbehandelnden Arztes erleichtert oder ermöglicht wird (OLG München, 1 W 1320/11).

Das Vorstehende berücksichtigt, ist der Arzt für die Beantwortung der Frage, ob Dritte post mortem Informationen erhalten sollen „zwar gewissermaßen selbst die letzte Instanz. Die damit verbundene Mißbrauchsgefahr muß wegen des hohen Stellenwerts, der dem Vertrauensschutz zukommt, grundsätzlich hingenommen werden“ (BGH, VI ZR 259/81). Andererseits darf der Arzt nicht willkürlich entscheiden. Wenn der Arzt zu dem Ergebnis kommt, dass eine Offenbarung den Interessen des Patienten zuwiderläuft, muss er dieses Ergebnis und die ihm zugrundliegenden Erwägungen jedenfalls insoweit offenlegen, dass erkennbar wird, dass seine Weigerung auf konkreten Belangen des Verstorbenen beruht. Dabei darf er aber nicht so konkret werden, dass bereits durch diese Erläuterung seiner Entscheidung die zu schützenden Geheimnisse bekannt werden (BGH, a.a.O.).

5. Einsichtsrecht der Erben und Angehörigen gemäß § 630g Abs. 3 BGB

Mit dem Patientenrechtegesetz wurde auch in Bezug auf die Schweigepflicht und das Einsichstrecht der Erben und der Angehörigen die bisherige, durch die Gerichte geschaffene Rechtslage unverändert in das BGB übernommen. An der Rechtslage selbst hat sich – wie vom Gesetzgeber beabsichtigt – nichts wesentliches geändert. Damit haben die Erben des Patienten ein Einsichtsrecht, wenn es um materielle Interessen geht. Damit sind insbesondere etwaige Schadensersatzansprüche gegen den behandelnden Arzt wegen eines (vermeintlichen) Behandlungsfehlers umfasst. Die Angehörigen haben hingegen – unabhängig von ihrer etwaigen Erbenstellung – ein Einsichtsrecht bei immateriellen Interessen (z.B. Interesse des Angehörigen am Vorliegen einer Erbrkankheit).

Wörtlich heißt es nunmehr im Gesetz (§ 630g Abs. 3 BGB):

(3) Im Fall des Todes des Patienten stehen die Rechte aus den Absätzen 1 und 2 [Einsichtsrecht des Patienten und Anspruch auf elektronische Kopie der Akte gegen Kostenersatz] zur Wahrnehmung der vermögensrechtlichen Interessen seinen Erben zu. Gleiches gilt für die nächsten Angehörigen des Patienten, soweit sie immaterielle Interessen geltend machen. Die Rechte sind ausgeschlossen, soweit der Einsichtnahme der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten entgegensteht.“

6. Einsichtsrecht von Krankenkassen und -versicherungen

Nicht enthalten ist im Gesetz ein Anspruch der Krankenversicherung des Patienten auf Einsicht in dessen Akte post mortem. Zwar wollte der Gesetzgeber die Rechtslage nicht ändern, der klare Wortlaut der gesetzlichen Regelung spricht jedoch gegen einen Anspruch von Krankenversicherungen und anderen Dritten. Daraus folgt, dass der Arzt Krankenkassen und -versicherungen gegenüber auch nicht mehr zur Offenbarung berechtigt ist. Letztlich wird die Rechtsprechung entscheiden müssen, ob auch Krankenkassen und –versicherungen weiterhin einen Auskunftsanspruch haben. Unberührt hiervon bleiben etwaige Ansprüche der Krankenkassen auf sozialversicherungsrechtlicher Grundlage (z.B. MDK-Abrechungsprüfung etc.).

Zusammengefasst gilt: Immaterielle Gründe (z.B. Fragen des Persönlichkeitsrechts, Interesse des Kindes am Bestehen etwaiger Erbkrankheiten etc.) begründen eine Offenbarungspflicht gegenüber den Angehörigen, materielle Gründe (insb. Schadensersatz nach Behandlungsfehler) begründen eine Offenbarungspflicht gegenüber den Erben des Patienten, solange die Offenbarung der konkreten Information an die konkret anfragende Person dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten entspricht. In allen anderen Fällen gilt die ärztliche Schweigepflicht post mortem uneingeschränkt.

Praxishinweis

Idealerweise ist dem Arzt der Wille des Patienten bekannt – er ist zu befolgen. Andernfalls gilt: Soweit nicht klar und nachweislich ein gegenteiliger Wille des Patienten in Bezug auf das konkrete Einsichtsgesuchs eines berechtigten Erben oder Angehörigen anzunehmen ist, sollte der Arzt diesem schnell und unbürokratisch nachkommen. Eine entsprechende Dokumentation ist vorzunehmen. Würde die begehrte Einsichtnahme hingegen eindeutig gegen den Willen des verstorbenen Patienten verstoßen, muss der Arzt diese verweigern.

Rechtsanwalt Torsten Nölling

Fachanwalt für Medizinrecht