Rechtsanwalt Medizinrecht Leipzig

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum neuen Tarifeinheitsgesetz und seine Auswirkungen im Klinikalltag

Bis zum 07.07.2010 galt in Deutschland der Grundsatz „ein Betrieb, ein Tarifvertrag“. Das Bundesarbeitsgericht, das diesen Grundsatz der Tarifeinheit aus Praktikabilitätsgründen jahrzehntelang aufrechterhalten hatte, verabschiedete sich vor gut sieben Jahren in einem weitreichenden Urteil von diesem. Gegenstand des Verfahrens waren Urlaubsansprüche eines Arztes, der sich als Mitglied des Marburger Bundes dagegen zur Wehr setzte, in den allein von der Gewerkschaft ver.di und nicht von seiner eigenen Gewerkschaft ausverhandelten TVöD übergeleitet zu werden. Er wollte lieber in dem für ihn günstigeren und von seiner Gewerkschaft, dem Marburger Bund, ausgehandelten, damals noch geltenden BAT verbleiben. Der Arzt obsiegte und die jahrzehntelange Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Grundsatz der Tarifeinheit war Geschichte. Nunmehr konnten mehrere Tarifverträge in einem Betrieb parallel gelten. Dieser neue Grundsatz der Tarifpluralität eröffnete sogenannten Klein- oder Spartengewerkschaften ungeahnte Möglichkeiten ihre Interessen mit den Mitteln des Arbeitskampfes durchzusetzen. Während im Gesundheitswesen der Marburger Bund und seine Mitglieder, die angestellten Krankenhausärzte, von dieser Regelung profitierten ohne für bedeutenden gesellschaftlichen Missmut zu sorgen, führte in anderen Bereichen, insbesondere im Flug- und Eisenbahnverkehr, die Durchsetzung der Interessen von Piloten und Lokführern zu größerem Unverständnis in der Bevölkerung.

Die Politik nahm dieses Unverständnis zum Anlass das sogenannte Tarifeinheitsgesetz auf den Weg zu bringen, welches den Grundsatz der Tarifeinheit wieder durchsetzen sollte. Nach der vormaligen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Tarifeinheit erfolgte die Auswahl zwischen zwei konkurrierenden Tarifverträgen zuvorderst nach dem Grundsatz der Spezialität. Man musste also fragen, welcher der konkurrierenden Tarifverträge den Eigenarten und Erfordernissen des Betriebs und der darin Tätigen räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten stehe (BAG, Urt. v. 07.07.2010 – 4 AZR 549/08 – RN 17). Mit dem Tarifeinheitsgesetz (vom 03.07.2015, BGBl. I, 1130) wurde im Unterschied dazu festgelegt, dass der Tarifvertrag Geltung erhalten solle, dessen Gewerkschaft mehr Mitglieder im Betrieb nachweisen kann. Nach der alten Rechtsprechung zur Tarifeinheit konnte sich vor 2010 also durchaus auch eine Kleingewerkschaft aufgrund größerer Spezialität ihres Tarifvertrages gegen eine großen Gewerkschaft durchsetzen. Das neue Tarifeinheitsgesetz lässt hierfür wenig Raum. Es kommt allein auf die Anzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer im Betrieb an. Eine kleine Spartengewerkschaft, wie die Vereinigung Cockpit oder die Gewerkschaft der Flugsicherung kann in großen Betrieben aufgrund der geringen Anzahl potenzieller Mitglieder (allein Piloten oder Fluglotsen) kaum je mehr Mitglieder im Betrieb nachweisen als eine große Sammlungsgewerkschaft wie z.B. ver.di. Das Gesetz wurde daher auch weithin als Gesetz gegen die Spartengewerkschaften der sogenannten Funktionseliten verstanden.

Mehrere Gewerkschaften, unter ihnen auch der Marburger Bund, legten gegen dieses Gesetz Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein. Nachdem zunächst eine einstweilige Anordnung zur Aussetzung des Tarifeinheitsgesetzes wegen fehlender Eilbedürftigkeit vom BVerfG (Ablehnung einstweilige Anordnung v. 06-10.2015 – 1 BvR 1571/15) abgelehnt wurde, waren die zulässigen Verfassungsbeschwerden im späteren Hauptsacheverfahren (Urteil vom 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15) jedenfalls teilweise erfolgreich. Zwar wurde das Tarifeinheitsgesetz als solches von den Verfassungsrichtern gebilligt. Die wichtige Regelung zur Verdrängung des einen Tarifvertrags durch den anderen wurden jedoch als teilweise verfassungswidrig erkannt und der Gesetzgeber zu einer Korrektur der Regelung aufgefordert, um den Schutz der Interessen der Berufsgruppe, deren Tarifvertrag verdrängt wurde, zu wahren.

Von großer Bedeutung ist daneben aber vor allem die Feststellung des BVerfG, dass diese Verdrängungsregelung selbst (§ 4a TVG) durch den Tarifvertrag abbedungen werden kann. Diese Tarifdispositivität bedeutet nichts anderes, als dass die Tarifvertragsparteien, also die Gewerkschaft auf der einen, die Arbeitgeber auf der anderen Seite, vereinbaren können, dass der Kern des Tarifeinheitsgesetzes, der die Tarifeinheit wiederherstellen soll, in dem Anwendungsbereich des konkreten Tarifvertrages nicht gelten soll. Sofern eine solche Einigung erzielt werden kann, gelten z.B. in den Krankenhäusern wie bisher mehrere Tarifverträge (z.B. TV-Ärzte und TVöD-K) parallel. Es besteht weiterhin Tarifpluralität.

Diese Feststellung des BVerfG nahmen die im Gesundheitswesen maßgeblichen Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund zum Anlass einen „Nichtangriffspakt“ zu schließen. Im Rahmen einer von beiden Gewerkschaften unterzeichneten Vereinbarung (Presseerklärung von ver.di und Marburger Bund vom 01.12.2017, abrufbar unter: www.marburger-bund.de ) verpflichten sie sich, zum einen keinen Antrag zur Feststellung der gewerkschaftlichen Mehrheit im Betrieb zu stellen, zum anderen sollen auch die Arbeitgeber im Rahmen der Tarifverhandlungen dazu aufgefordert werden. Diesen Ausschluss der Verdrängungswirkung betrachten Marburger Bund und ver.di als zulässiges Streikziel und haben sich gegenseitig verpflichtet, dieses Ziel auch zu verfolgen. Als ersten Erfolg kann der Marburger Bund bereits auf die laufenden Tarifverhandlungen mit den BG-Kliniken verweisen. Nach Bekanntwerden der Vereinbarung zwischen Marburger Bund und ver.di Anfang Dezember 2017 konnten die festgefahrenen Verhandlungen zwischen BG-Kliniken und Marburger Bund wiederaufgenommen werden und eine Grundsatzeinigung erzielt werden. Bestandteil dieser Grundsatzeinigung ist die Vereinbarung, dass beide Tarifparteien, also Gewerkschaft und Arbeitgeber auf die Feststellung der gewerkschaftlichen Mehrheit im Betrieb verzichten werden. Damit ist der erste Schritt zur Aushebelung der gesetzlich vorgesehenen Tarifeinheit getan. Wenn nun auch im nächsten Tarifvertrag mit ver.di eine vergleichbare Vereinbarung getroffen wird, gilt jedenfalls im Bereich der BG-Kliniken der Grundsatz der Tarifpluralität weiter.

Unmittelbare Auswirkungen hat das Urteil des BVerfG, das neue Tarifeinheitsgesetz und die Vereinbarung der Gewerkschaften für Kardotechniker/innen nicht. Denn die Arbeitsbedingungen für diese Berufsgruppe wurde erstmals und bisher ausschließlich im TVöD-K explizit geregelt. Kollidierende Regelungen existieren in den Tarifverträgen des Marburger Bund, der allein Ärzte vertritt, nicht. Jedoch stellt die aktuelle Entwicklung eine Wiedererstarkung der Interessenvertretung der sogenannten Leistungseliten im Arbeitsrecht dar. Der Marburger Bund beweist durch diese Vereinbarung, dass auch Spatengewerkschaften für ihre Mitglieder wirksam Tarifpolitik betreiben können. Kardiotechniker sind, jedenfalls in den Herzzentren, in einer ähnlichen Schlüsselposition wie Ärzte im gesamten Gesundheitswesen. Die Fachkräfte sind rar und ohne sie kann der Betrieb nicht weitergehen.

Rechtsanwalt Torsten Nölling

Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Kardiotechnik, 2-2018, S. 56-57.