Rechtsanwalt Medizinrecht Leipzig

Berufungsausschuss: Verstreichen der Zahlungsfrist führt nicht zur Rücknahme des Widerspruchs

BSG, 07.09.2022 – B 6 KA 11/21 R

Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass ein Widerspruch nicht durch fiktive Rücknahme nach § 45 Absatz 1 Satz 1 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) erledigt ist.

Bisherige Rechtslage

Nach § 45 Absatz 1 Ärzte-ZV gilt ein Widerspruch als zurückgenommen, wenn die Widerspruchsgebühr nicht innerhalb der gesetzlichen Frist entrichtet wurde. Diese Regelung führte in der Vergangenheit immer wieder dazu, dass ein Widerspruchsverfahren, bei dem der Widerspruchsführer inhaltlich (materiell) gute Aussicht auf Erfolg hatte, wegen einer (versehntlichen) Versäumnis der Zahlungsfrist aus rein formellen gründen frustran endete.

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 07.09.2022

Das Bundessozialgericht hat in der hochaktuellen Entscheidung die Reglung des § 45 Abs. 1 Ärzte-ZV für unanwendbar erklärt. Da es sich bei der Ärzte-ZV nur um eine untergesetzliche Rechtsverordnung handelt und nicht um ein formelles Parlamentsgesetz ist auch das Bundessozialgericht berechtigt, die Unanwendbarkeit der Norm festzustellen.

Die Ärzte-ZV ist eine Rechtsverordnung, die gem. Art. 80 GG einer hinreichend bestimmten (parlamentarisch verabschiedeten) gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf. Als Rechtsgrundlage in Betracht kommt hierfür lediglich § 98 Absatz 2 Nr. 3 SGB V. Danach muss die Zulassungsverordnung Vorschriften enthalten, die das Verfahren der Ausschüsse, entsprechend den Grundsätzen des Vorverfahrens in der Sozialgerichtsbarkeit regeln. Diesen gesetzlichen Rahmen überschreitet die Ärzte-ZV mit der Vorschrift des § 45 Absatz 1 nach Feststellung des BSG.

Zudem wird der Berufungsausschuss nach dieser Vorschrift dazu berechtigt, den Widerspruch bei nicht fristgerechter Zahlung der Widerspruchsgebühr als fiktiv zurückgenommen zu betrachten, was die Befugnisse, die sich aus dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergeben, überschreitet.

Im SGG ist zwar eine fiktive Klage- bzw. Berufungsrücknahme geregelt, diese kann jedoch nicht auf das Widerspruchsverfahren übertragen werden, da sie sich lediglich auf begrenzte gesetzliche Ausnahmefälle bezieht.

Obwohl das Vorverfahren im Vertragsarztrecht als eigenes Verwaltungsverfahren Besonderheiten gegenüber dem Vorverfahren aus dem SGG aufweist, schafft es keine Grundlage zur Entwicklung von Vorschriften, die von denen des SGG zur Regelung von sozialgerichtlichen Vorverfahren abweichen.

Solche Vorschriften, die den effektiven Rechtsschutz Art 19 Abs 4 Grundgesetz erheblich einschränken, bedürfen nach dem Bundessozialgericht einer gesetzlichen Grundlage, an welcher es derzeitig mangelt.

Praxishinweis

Derzeit liegt allein die Pressemitteilung des BSG vor. Mit der Veröffentlichung der ausführlichen Urteilsgründe ist erst in einigen Monaten zu rechnen. Inhaltlich ist jedoch bereits jetzt klar: Die Rechtskraft der Entscheidungen der Zulassungsausschüsse kann nicht allein auf die fiktive Rücknahme des Widerspruchs nach § 45 Absatz 1 Ärzte-ZV begründet werden. Entsprechende Entscheidungen der Berufungsausschüsse sind rechtswidrig. Betroffene sollten anwaltlichen Rat einholen, um die nach dieser Entscheidung bestehenden Möglichkeiten zu prüfen. Abzuwarten bleibt, ob der Gesetzgeber nachjustiert.

Leipzig, im September 2022