Rechtsanwalt Medizinrecht Leipzig

Kommentar zu: Die neue Zweitmeinungs-Richtlinie des G-BA führt zu neuen Haftungsrisiken und einer längeren OP-Vorlaufzeit bei Hysterektomien

Zusammenfassung

Seit Mitte 2015 haben alle GKV-PatientInnen bei bestimmten planbaren Eingriffen einen Anspruch auf die Einholung einer Zweitmeinung als Kassenleistung. Das mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz im Jahr 2015 neu in das Gesetz aufgenommen Zweitmeinungsverfahren sollte durch den G-BA im Wege einer Richtlinie (Zm-RL) näher geregelt werden. Ein Richtlinienentwurf des G-BA vom Spätsommer 2019 konnte aufgrund einer Beanstandung durch das Bundesgesundheitsministerium als Aufsichtsbehörde (BMG) bisher nicht in Kraft treten. Nunmehr hat das BMG mit Schreiben vom 11.07.2018 die Zm-RL mit Ausnahme der Regelungen zum Umfang der Befunderhebung durch den Zweitmeiner in § 3 Abs. 2 und § 8 Abs. 6 S. 2 Zm-RL genehmigt, sodass die übrigen Regelungen der Richtlinie nach ihrer Veröffentlichung im Bundesanzeiger in Kürze in Kraft treten werden. Zu den Details der unveränderten Regelungen und deren Auswirkungen auf die ärztliche Praxis darf auf den veröffentlichten Beitrag im Gynäkologen[1] verwiesen werden. Allein auf die aktuellen Änderungen soll im Folgenden eingegangen werden:

(Erneute) Befunderhebung durch den „Zweitmeiner“

Nach der bisherigen Regelung durfte der Zweitmeiner für die Abgabe einer zweiten Meinung nur auf die von der/dem indikationsstellenden Ärztin/Arzt erhobenen Befunden zurückgreifen und zusätzlich allein ein Anamnesegespräch und eine körperliche Untersuchung durchführen. Sollte es erforderlich sein weitere Befunde oder die vorhandenen erneut zu erheben, sollte der Zweitmeiner dies der Patientin mitteilen. Die Patientin sollte sodann bei der/dem indikationsstellenden oder einer/m dritten Ärztin/Arzt diese Befunde einholen. Dieses Verbot, eigenständig (erneut) die zur Abgabe einer Zweitmeinung erforderlichen Befunde zu erheben, beanstandete das BMG[2]. Ein Vorschlag des G-BA[3], diese Einschränkung aufzuheben, fand die Zustimmung des BMG[4]. Vorbehaltlich des noch ausstehenden Beschlusses des G-BA wird auf Basis des vorhandenen Schriftverkehrs[5] die Aufgabe des Zweitmeiners in § 3 Abs. 2 Zm-RL zukünftig voraussichtlich wie folgt gefasst sein:

„Die Erbringung einer Zweitmeinung umfasst neben der eigenständigen Bewertung und Beratung des Versicherten ärztliche Untersuchungsleistungen, sofern sie zur Befunderhebung und Überprüfung der Indikationsstellung zu dem vorgesehenen Eingriff medizinisch erforderlich sind.“

Wünschenswert wäre hier eine redaktionell-grammatikalische Überarbeitung im laufenden Verfahren. Inhalt der Zweitmeinung ist sicher nicht eine „Bewertung (…) des Versicherten“, sondern vielmehr eine „(eigenständige) Bewertung der Indikationsstellung“ oder schlicht eine „eigenständige Überprüfung der Indikation“.

Noch nicht final geklärt ist, ob die Berechtigung des Zweitmeiners zur (erneuten) Befunderhebung von dem Grund für das Fehlen der Befunde abhängig sein soll. Bisher fehlt eine eindeutige Regelung. Hier mahnt das BMG noch eine Klarstellung durch den G-BA an.[6]

Denkbar wäre etwa eine Differenzierung danach, ob die Befunde generell nicht erreichbar sind, etwa weil Sie nie oder nicht in der erforderlichen Qualität oder Aktualität erhoben wurden oder ob sie nur aktuell nicht erreichbar sind, etwa weil sie zwar erhoben wurde und bei der/dem indikationsstellenden Ärztin/Arzt vorhanden sind, die Patientin jedoch nicht über Ihr Recht auf Aushändigung der Unterlagen nach § 6 Abs. 4 Zm-RL aufgeklärt wurde oder sie diese z.B. schlicht „vergessen“ hat. In ersterem Fall ist eine (Neu-)Anfertigung unbedingt erforderlich, in letzterem Fall spricht viel dafür, dass aus Kosten- und Patientenschutzgesichtspunkten eine Neuanfertigung ohnehin zu unterlassen ist. Nach den WANZ-Kriterien des § 12 SGB V dürfte die erneute Befunderhebung regelmäßig unwirtschaftlich sein und bei Untersuchungsmethoden, die zu einer Belastung der Patientin führen, etwa einer Strahlenexposition, spricht auch dieser Aspekt gegen eine erneute Befunderhebung (sog. rechtfertigende Indikation nach §§ 25, 23 RöV).

Fazit für die Praxis:

Für die/den indikationsstellende/n Ärztin/Arzt ändert sich durch die Beanstandung des Entwurfs und die nunmehr anstehende Neufassung der Zm-RL nichts. Sie/Er hat gemäß § 6 Zm-RL weiterhin die Patientin auf die Möglichkeit einer Zweitmeinung und die Mitgabe der Befundunterlagen hinzuweisen.[7]

Der Zweitmeiner wird zukünftig in die Lage versetzt, alle erforderlichen Befunde selbst zu erheben, so sie noch nicht oder nicht in der erforderlichen Qualität oder Aktualität erhoben wurden. Aus Sicht der Patientinnen und auch der Zweitmeiner ist diese Änderung zu begrüßen. Die Patientinnen müssen im Fall fehlender Befunde nicht erneut einen Termin bei der/dem Indikationsstellenden Ärztin/Arzt oder, wie das BMG vermutet,[8] aus Gründen sodann fehlenden Vertrauens, bei einer/m dritten Ärztin/Arzt, vereinbaren, sondern können diese Befunderhebung gegebenenfalls umgehend beim Zweitmeiner durchführen lassen. Insbesondere bei der aus gynäkologischer Sicht aktuell in Frage kommenden Zweitmeinung bei einer Indikation zur Hysterektomie bedeutet dies eine erhebliche Erleichterung. Denn nach der bisherigen Regelung wäre z.B. eine Sonographie durch den Zweitmeiner nicht zulässig jedenfalls aber nicht abrechenbar gewesen, da nur „körperliche Untersuchungen“ zulässig seien sollten.

Aus versorgungspolitischer Sicht droht durch diese Änderung eine Erhöhung der Kosten durch medizinisch unnötige Doppeluntersuchungen, sei es, weil der Patient die Befunde schlicht nicht mitgebracht hat, sei es, weil der Zweitmeiner lieber auf die Befunde aus „seinem Haus“ vertraut. Damit einher geht das Risiko einer unnötigen Belastung der Patientinnen durch Doppeluntersuchungen, insbesondere bei bildgebender Diagnostik mittels ionisierender Strahlung.

Letztlich wird durch das geänderte Zweitmeinungsverfahren ein Vorgehen legalisiert, das bereits derzeit im Graubereich des Rechts von vielen Patientinnen praktiziert wird. Bei Bedarf nach einer weiteren Meinung wird ein weiterer Arzt konsultiert, der gegebenenfalls die komplette Untersuchung erneut durchführt. Im Unterschied zu der bisherigen Rechtslage wird dieses Vorgehen – bei den Ärzten, die über die erforderliche Abrechnungsgenehmigung verfügen – nunmehr für alle Beteiligten legalisiert, was zu begrüßen ist.

Leipzig, den 18.07.2018

Rechtsanwalt Torsten Nölling

Ergänzung: Der G-BA hat mit Beschluss vom 18.10.2018 auf die Kritik des BMG reagiert. Alles Wichtige dazu lesen Sie hier.

[1] Zum Inhalt der übrigen Regelungen, siehe Nölling, Die neue Zweitmeinungsrichtlinie des G-BA führt zu neuen Haftungsrisiken und einer längeren Operationsvorlaufzeit bei Hysterektomien, Der Gynäkologe (2018), 51 (8), 679–682.

[2] Schreiben des BMG v. 09.03.2018, abrufbar unter: https://www.g-ba.de/informationen/beschluesse/3079/ (Stand: 18.07.2018).

[3] Schreiben des G-BA v. 05.07.2018, abrufbar unter: https://www.g-ba.de/informationen/beschluesse/3079/ (Stand: 18.07.2018).

[4] Bescheid des BMG v. 11.07.2018, abrufbar unter: https://www.g-ba.de/informationen/beschluesse/3079/ (Stand: 18.07.2018).

[5] Schreiben des G-BA v. 05.07.2018, S. 3 und Bescheid des BMG v. 09.03.2018, S. 4, a.a.O.

[6] Bescheid des BMG v. 11.07.2018, S. 4, a.a.O.

[7] Zu den sonstigen Aufgaben, Pflichten und Rechten der/des indikationsstellenden Ärztin/Arztes, siehe Nölling, a.a.O.

[8] Bescheid des BMG v. 11.07.2018, S. 3, a.a.O.

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